Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, hat allen Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft, NGOs und jedem Menschen in erschreckender Deutlichkeit unsere wirtschaftlich-industrielle, insbesondere energetische Vernetzung und damit Abhängigkeit vor Augen geführt. Doch wir haben einen kurzfristig wirksamen Hebel, der schon bei der Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen ein stiefmütterliches Dasein führte: Maßnahmen zur Energieeffizienz. Sie vermindern nicht nur den Geldtransfer in problematische Volkswirtschaften. Darin steckt auch die Chance, Wertschöpfung in Deutschland zu schaffen.
Der Krieg führt aus politischen, wirtschaftlichen und moralischen Gründen dazu, das Verhältnis zu Russland und insbesondere die genannten Abhängigkeiten zu überdenken und neu zu justieren. Jede nicht verbrannte kWh russischen Gases und jedes Kilo eingesparter Kohle reduziert die wirtschaftliche und damit militärische Handlungsfähigkeit Russlands. Nun hat Deutschland mit Katar, dem Weltmarktführer für Flüssiggas, in atemberaubenden Tempo eine „Energiepartnerschaft“ geschlossen. Wann wieviel Flüssiggas geliefert wird, wurde zunächst nicht bekannt. Das kleine Land am Persischen Golf ist in langfristige Lieferverträge vor allem mit Asien gebunden.
40 Prozent der Energie ist einsparbar
Doch können wir uns auch so aus der Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen aus Russland und anderen Ländern herausarbeiten, denn die Potenziale, die in Energieeffizienzmaßnahmen stecken, sind enorm. Und gerade im verarbeitenden Gewerbe, das gut 40 Prozent der Primärenergie Deutschlands verbraucht – und entsprechend hohe CO2-Emissionen verursacht –, haben wir für unsere Industrie bereits zahlreiche Lösungen anzubieten, die Menschen müssen sie nur wollen. Sie müssen durch entsprechende unbürokratische Förderungen schnell in die Breite getragen werden – auch, wenn die explodierenden Energiepreise einen eigenen Anreiz schaffen dürften.
Mit der ETA-Fabrik in Darmstadt haben wir gezeigt: 40 Prozent Energieeinsparungen durch Nutzung von Abwärme aus der eigenen Produktion sind keine Wunschträume, sondern Realität. Von den Ergebnissen der Demofabrik überzeugt, hat beispielsweise der Maschinenbauer Trumpf das Konzept umgesetzt und verbraucht nun in seinem neuen Gebäude in Ditzingen bei Stuttgart 70 Prozent weniger Gas im Vergleich zu einem Neubau mit konventioneller Gebäudeausrüstung und Versorgungstechnik.
Ein ebenfalls dringlich wünschenswerter Effekt: Die CO2-Emissionen der Infrastruktur werden um 60 Prozent reduziert. Auch in bereits bestehenden Strukturen senken die Maßnahmen den Energiebedarf signifikant. Das Ganze hochgerechnet auf die deutsche Industrie lässt die Einsparpotenziale erahnen.
Gekoppelte Energiesysteme in der Stadt
Das Konzept der ETA-Fabrik lässt sich jedoch noch viel größer denken, indem man das Energienetz der Fabrik mit dem städtischen Energiesystem verbindet. Das Pharmaunternehmen Merck in Darmstadt plant die künftige Versorgung eines Wohnquartiers, das auf Fernwärme ausgelegt ist, mit seiner Abwärme.
Ein anderes Projekt: An die unausgelasteten Stromnetze der Straßenbahnen sollen Ladestationen für E-Autos angebunden werden. Dies sind Teilprojekte von „Delta“, einem Vorhaben, das Energienetze in Darmstadt miteinander verknüpfen und die Stadt zu einem „Reallabor der Energiewende“ machen soll. Die maximal effiziente Nutzung sämtlicher Energieflüsse in der Stadt und vergleichbare Initiativen könnten uns relativ kurzfristig einen wichtigen Schritt Richtung Unabhängigkeit voranbringen.
Gerade die energieintensive Industrie bietet Möglichkeiten
Und es gibt noch mehr positive Entwicklungen, die uns in diesen extrem schwierigen Zeiten zugute kommen. So ist bei den erneuerbaren Energien seit einigen Monaten der Break-Even-Point erreicht: Ihre Nutzung zur Energieversorgung ist nun günstiger als die fossiler Energieträger.
Die Kosten für die Herstellung einer kWh sind bei der Nutzung von Photovoltaik-Anlagen niedriger als bei der Verbrennung von Erdgas. Und die Marge wird sich durch die enorm steigenden Preise fossiler Energien noch weiten. Das heißt: Politik, Unternehmen und Hausbesitzer sind gefordert, alles zu tun, damit Solaranlagen so schnell als möglich auf jedes geeignete Dach kommen. Das ist keine allzu neue Forderung.
Aber nicht nur im Eigenheim schlummern ungenutzte Potenziale. Ausgerechnet in der energieintensiven Industrie aus Branchen wie Stahl, Aluminium, Papier, Chemie oder auch Nahrungsmittel könnte die Produktion auf das volatile Angebot der Sonnen- und Windenergie reagieren und damit einen ganz erheblichen Beitrag zur Stabilität unseres Stromnetzes leisten.
Im vergangenen Jahr haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Kopernikus-Projekts SynErgie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung das Energieflexibilitätspotenzial der Industrie berechnet. Sie konnten zeigen, dass der Strombedarf der Industrie kurzfristig gesenkt werden und damit die Leistung von bis zu 1.430 Onshore-Windrädern eingespart werden kann. Von den eingesparten CO2-Emissionen ganz zu schweigen.
Dieses Potenzial haben die Forschenden von SynErgie nun für noch mehr Industrieprozesse berechnet und werden in den kommenden Wochen die neuen Zahlen veröffentlichen. Die Tendenz, soviel kann schon heute verraten werden, zeigt stark nach oben. Dabei sollte mitgedacht werden, dass wir mit solchen Technologien einen echten Exportschlager entwickeln können.
Politik muss Regularien sofort anpassen
Damit Unternehmen flexibel auf Stromüberschuss oder -knappheit reagieren können, müssen sie zum Teil die IT-Steuerung ihrer Prozesse anpassen. Eine Umstellung ist dann oftmals in wenigen Wochen machbar. Andere Firmen müssen ihre Maschinen und Anlagen umrüsten, das dauert dann Monate, manchmal wenige Jahre – ermöglicht dann aber langfristige Energieflexibilität.
All diese Potenziale lassen sich jedoch nur unter einer Voraussetzung heben: Die Politik muss sofort die bisherigen Regularien ändern. Die Stromnetzentgeltverordnung in ihrer jetzigen Form bestraft Unternehmen, die ihren Strombedarf flexibel ausrichten, und belohnt diejenigen, die ihn über das Jahr konstant halten. Die Industrie – so sind die Erfahrungen von uns Forschenden – würde sich gerne auf volatile Erneuerbare einstellen, und nun gerade auch diejenigen, die von Erdgas abhängig sind. Solange die Gesetze aber bleiben, wie sie sind, lohnt eine Flexibilisierung wirtschaftlich für die meisten Firmen nicht. Es wäre ein Leichtes, das zu ändern.
Unabhängigkeit ist also kein Hexenwerk, im Gegenteil, es ist eine große wirtschaftliche Chance. Lasst uns sämtliche zur Verfügung stehenden Mittel synergetisch, effektiv und schnell einsetzen. Jetzt ist der Moment, wo wir den Mut aufbringen müssen, neue Wege zu gehen. Einfach mal machen und dann schauen – das ist eine nicht sehr deutsche Herangehensweise an Herausforderungen. Aber wann, wenn nicht jetzt, ist der Moment, es zu wagen?
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