WGP zeigt Wege zum Life Cycle Engineering

Man könne nicht einfach die Produktion vom Lebenszyklus des Produktes trennen, so Prof. Christoph Herrmann, Leiter des Instituts für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik an der TU Braunschweig, auf dem 10. Jahreskongress der WGP. Notwendig sei es daher einen wissenschaftlich fundierten, objektiven Rahmen zu definieren.

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v.l. : Prof. Christoph Herrmann, Leiter des Instituts für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik (IWF) der TU Braunschweig (Bildnachweis: TU Braunschweig) und Prof. Matthias Kleiner, Präsident der Leibniz-Gemeinschaft und Leiter des Instituts für Umformtechnik und Leichtbau (Bildnachweis: IUL Dortmund)

Herrmann forscht seit Jahren an Modellen und Methoden zur Abschätzung von Umweltwirkungen von Produkten und Produktionsverfahren. Analysiert werden dabei alle Lebensphasen eines Produktes, von der Gewinnung der Rohmaterialien bis hin zum Lebensende. „Wenn wir Klimaneutralität nur für den Schritt der Produktion planen, kann es passieren, dass wir das Problem lediglich verschieben, beispielsweise von der Nutzungs- in die Recyclingphase oder von Auswirkungen auf den Klimawandel hin zu Ökotoxizität. Um das zu vermeiden, müssen wir die quantitative Umweltbewertung, die sogenannte Ökobilanz, in den Produktentstehungsprozess integrieren“, warnt Herrmann.

„Bislang ist ein breiter Einsatz aber noch nicht möglich, da diese Bilanz nur unzureichend in ein Engineering-Vorgehen eingebettet ist. Außerdem ist die Visualisierung noch nicht auf die Zielgruppen zugeschnitten, was eine Interpretation der Ergebnisse behindert. Die Hotspots mit den größten Auswirkungen auf die Umwelt und insbesondere mögliche Ansatzpunkte für Produkt- und Prozessinnovationen können deswegen nur schwer identifiziert werden. Nur wenn wir das ändern, schaffen wir den Weg hin zu einem auf ökologische Nachhaltigkeit ausgerichteten Life Cycle Engineering.“

Der Aufbau von Kompetenzen zu Ökobilanzen und Life Cycle Engineering wird, so ergänzt Herrmann, „die interne Komplexität weiter steigern, zumal wir nicht nur die ökologischen, sondern auch noch die ökonomischen und sozialen Dimensionen innovativer Lösungen mitdenken müssen.“ Doch mit Blick auf die politischen Ziele in Deutschland und den Europäischen Green Deal, die sich nahezu Klimaneutralität bis zur Mitte des Jahrhunderts zum Ziel gesetzt haben, werden produzierende Unternehmen nicht um ein Umdenken herumkommen.

Mehr computerunterstützte Werkzeuge

Ökobilanzen hängen von einer großen Zahl von Faktoren ab, wie etwa die verwendeten Materialien, deren ökologischer Rucksack für sich genommen schon sehr variabel sein kann. Aber auch der Anteil der erneuerbaren Energiequellen, der Strompreis und nicht zuletzt das Klima am Produktionsstandort spielen eine Rolle. Der Einfluss auf das Klima, das sogenannte Treibhaus-Potenzial, steigt natürlich mit höherer CO2-Intensität des lokalen Strommixes. Der Anteil der Erneuerbaren liegt in Schweden beispielsweise besonders hoch, in Frankreich bietet der Atomstrom für den CO2-Fußabdruck zunächst einmal Vorteile.

Die extrem komplexen Bilanzen, in denen eine solche Vielzahl von Produkt- und Produktionsparametern berücksichtigt und visualisiert werden müssen, können erst durch computerunterstützte Modelle transparent gemacht werden, betont Herrmann. Ein Ansatz ist das sogenannte Integrated Computational Life Cycle Engineering. Er koppelt Modelle der Produktion zum einen mit Modellen zur Beschreibung der Nutzungsphase bzw. dem Betrieb und zum anderen mit Modellen zum End-of-Life, also dem Recycling, der Verwertung und Verwendung. Dieser Ansatz macht Aussagen zur Life Cycle Performance neuer Produkt- und Produktionstechnologien sowohl im Hinblick auf technisch-wirtschaftliche Kenngrößen (z.B. Lebenszykluskosten) als auch ökologischen Kenngrößen (z.B. Umweltwertung) möglich.

„Heutige Computer und entsprechende Softwarewerkzeuge sind jedoch schon so leistungsstark, dass die integrative Modellierung und Simulationen auch komplexer Gesamtmodelle möglich ist“, ist sich der Braunschweiger Produktionstechniker sicher. „Selbst unterschiedliche Hintergrundsysteme, die die technologische, inter-individuelle, geographische und zeitliche Variabilität berücksichtigen, können abgebildet werden und machen anwendungsnahe Forschung möglich.“

Ökobilanz von E-Autos stark abhängig von Batterie

Am Beispiel der E-Mobilität lässt sich der Nutzen von Ökobilanzen aufzeigen, die den kompletten Lebenszyklus eines elektrisch betriebenen Autos in die Rechnung mit aufnehmen – von cradle to grave, also von der Wiege bis zur Bahre, wie man auch sagt. „Bei einem VW ID gehen bezogen auf die Fahrzeugherstellung mehr als 43 Prozent des CO2-Äquivalents auf die Batterieproduktion zurück“, rechnet Herrmann vor.

„Nachhaltige Batterieproduktion ist demnach von großer Bedeutung für die Ökobilanz der E-Mobilität.“ Hierzu wird bereits an vielen Forschungseinrichtungen gearbeitet. Das vor kurzem gestartete Begleitvorhaben „2nd Use & Green Battery“ aus der „Forschungsfabrik Batterie“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) beispielsweise widmet sich unter anderem der ganzheitlichen Bewertung von Rohstoffkreisläufen und 2nd-Use-Konzepten von Batterien. Herrmann ist einer der Sprecher des dazugehörigen Clusters.

Interdisziplinarität als Inspiration

Klimawandel, aber auch Pandemien oder Digitalisierung: Wir stehen vor globalen Herausforderungen, die hochkomplexe Fragen aufwerfen. Um Antworten darauf zu finden, braucht es exzellente innovative Forschung, so das Credo von Prof. Matthias Kleiner, Präsident der Leibniz-Gemeinschaft. In seiner Keynote warnte der Wissenschaftler und Umformtechniker davor, sich nur mit der eigenen Disziplin auseinanderzusetzen.

„Einzelne Forscher und Disziplinen stoßen schnell an ihre Grenzen. Wir brauchen gerade jetzt gemeinschaftliches Handeln und wechselseitige Inspiration. Nur das macht radikale Entdeckungen möglich, die wir dringend benötigen.“ Was die Vielfalt der Sichtweisen in inter- und transdisziplinären Forschungsgruppen möglich macht, erläuterte er anhand der Plasmatechnologie. In der Produktionstechnik spielt sie schon länger eine wichtige Rolle, etwa bei der additiven Fertigung oder der Bearbeitung von Oberflächen. Doch Plasma kann auch die Wundheilung beschleunigen und spielt im Gesundheitssektor eine immer wichtigere Rolle.

„In interdisziplinären Gruppen werden alte Gewissheiten eher hinterfragt, um neue Lösungen unter veränderten Rahmenbedingungen zu finden. Das ist nicht nur die Voraussetzung, um sich den komplexen Herausforderungen unserer globalisierten Welt zu stellen, sondern es ist auch die zentrale Strategie, Deutschland zukunftsfähig zu halten“, so Kleiner.

Kontakt:

www.wgp.de